Neuartiges Blitzschutzkonzept sichert moderne Kantine der Fraunhofer Gesellschaft vom Nachbargebäude aus
Wenn schon gebaut wird, dann auch optisch ansprechend, dachte sich die Fraunhofer Gesellschaft, als es um die Neugestaltung im Institutszentrum Stuttgart ging.
Die Architektur des modernen Kantinenbaus, der direkt in der Sichtachse der Besucher steht, wird entsprechend von großen Glasflächen und Holz dominiert. Problematisch allerdings: Auf dem Gebäude sollte keine Blitzschutzanlage zu sehen sein, sie hätte das Gesamtkonzept zu sehr gestört. Kurzerhand lagerten die Ingenieure in Abstimmung mit dem Bauherrn den Ableiter auf ein höheres Nachbargebäude aus. Möglich machte dies ein innovatives Blitzschutzkonzept aus den USA. Das Institutszentrum Stuttgart (IZS) ist das zweitgrößte Forschungszentrum der Fraunhofer Gesellschaft in Deutschland. Sechs Institute sind hier zentral versammelt, von der Arbeitswirtschaft über Bauphysik und Produktionstechnik bis hin zur Technologie-Entwicklungsgruppe. Treffpunkt für Forscher aller wissen-schaftlichen Richtungen ist die neugebaute Kantine des IZS. Mit riesigen Glasflächen, Holzelementen und einem weiten Balkon bietet sie nicht nur Raum für gemütliche Pausen, sondern tritt auch Besuchern des Zentrums direkt als offener und einladender Bau entgegen. Nichts sollte diesen ersten Eindruck stören, auch keine Blitzschutzinstallation auf dem Dach. Hinzu kam ein Problem mit der baulichen Gestaltung: „Da das Gebäude auf Stützen gebaut ist, hätte man bei einem herkömmlichen Blitzschutz die Ableitung an der Außenseite herunterführen müssen – eine potentielle Gefahr für Passanten“, so Rolf Rogg vom Ingenieurbüro Schwarz in Stuttgart, das für die Elektroplanung der Kantine verantwortlich war. Zudem stand in der Planungsphase nicht fest, ob der alte Kantinenbau, über dem der neue errichtet wurde, nicht noch abgerissen würde, weshalb die bestehenden notwendigen Ableiter und Erdungseinrichtungen nicht mehr genutzt und in die Planung einbezogen werden konnten.
Schon allein um Gebäudeschäden zu vermeiden, musste die Kantine dennoch vor Blitzen geschützt werden. Die einfache Lösung der Planer und Ingenieure: Der Blitzschutz für die Kantine sollte von einem benachbarten Gebäude kommen. „Dazu wurde allerdings eine Blitzschutzanlage benötigt, die ein ausreichend großes Fangvolumen besitzt, um beide Gebäude zu schützen“, erklärt Dipl.-Ing. Rainer Jacobi von der auf Blitz- und Überspannungsschutz spezialisierten Leutron GmbH.
Kontrollierte Entladung fängt Blitze ein
Für die ungewöhnlichen Ansprüche der Fraunhofer Gesellschaft griff man daher auf ein Dynasphere-System 3000 der neusten Generation zurück, eine Technik, die in Deutschland erst bei einigen wenigen aber namhaften Gebäuden, wie der Arena auf Schalke oder dem neuen Porsche Museum in Stuttgart, verwendet wird. Das System des US-amerikanischen Herstellers Erico hatte in zahlreichen Labor- und Feldversuchen wie auch in der Praxis im gewitterreichen Südostasien zuvor schon seine besondere Fangwirkung bewiesen.
Das System besteht –ungewöhnlich für einen Blitzableiter – aus einer halbkugelförmigen Fangeinrichtung, die auf einem Mast installiert ist. Sie ist das Herzstück der Anlage. Ein sich nähernder Abwärtsblitz bewirkt durch die kapazitive Kopplung über der Halbkugel einen Spannungsanstieg in dieser, der sich schließlich in einem kontrollierten Lichtbogen zwischen der Oberfläche der Kugel und der isoliert darin installierten Elektrode entlädt. „Durch die Verstärkung des elektrischen Feldes über der Kuppel wird ein Fangblitz gezündet“, so Jacobi. Der besondere Aufbau stellt dabei sicher, dass die Fangentladung zum richtigen Zeitpunkt entsteht. „Diese koppelt sich mit dem Blitz und führt ihn durch das Hochspannungsableiterkabel zur Erdungsanlage.“
Berechnungen bestimmen den optimalen Standort
Die „Anziehungskraft“ der Fangeinrichtung allein hätte allerdings nicht gereicht, um im IZS zwei Gebäude gleichzeitig zu schützen. Ebenso wichtig war die Positionierung auf dem Dach, um das Fangvolumen bestmöglich auszunutzen. Dafür griff Leutron nicht auf das einfache Blitzkugelverfahren zurück, das von einer angenommenen fixen Blitzdistanz ausgeht, sondern nutzte die so genannte Collection Volume Method (CVM), die neben Gebäudehöhe und -geometrie auch physikalische Kriterien berücksichtigt, wie den Widerstand der Luft und die Intensität des elektrischen Feldes an verschiedenen Punkten der Gebäudestruktur. Anhand eines eigens entwickelten CAD-Systems konnte unter Beachtung dieser Faktoren der beste Standort mittels dreidimensionaler Computermodelle ermittelt werden. Dabei ergab sich ein Punkt auf dem Hauptgebäude neben der Kantine. Dort befand sich bereits eine ältere, konventionelle Blitzschutzanlage, die aber problemlos durch das Dynasphere-System 3000 ersetzt werden konnte.
Um die Dachhaut nicht zu verletzen, wurde die Blitzableiterkonstruktion mit einer Dreibein-Halterung auf dem Dach verankert. Von der Fangeinrichtung führt ein leistungsfähiges Ableiterkabel zu einer Erdungsanlage mit niedrigem Widerstand, wodurch die abgefangenen Blitze sicher beherrscht werden können. Das verwendete Kabel, das am oberen Anschluss eine Spannungsfestigkeit von 250 Kilovolt aufweist, ist ein wesentlicher Bestandteil des Blitzschutzsystems. Durch seinen speziellen Aufbau reduziert sich die Gefahr von Über- oder Durchschlägen auch bei sehr großen Blitzströmen deutlich, der notwendige Trennungsabstand zum Ableiter von Erico geht gegen Null. „Durch diese Ableitung war es möglich, die von der Dynasphere eingefangene Blitzenergie auf gesichertem und kürzestem Wege direkt an der Außenwand hinter der Blechfassade zur Erdungsanlage abzuleiten“, berichtet Ingenieur Rogg. Der Optik des Hauptgebäudes blieb ebenso ungestört wie der äußere Eindruck der neugebauten Kantine.
Noch musste sich das neue System beim Fraunhofer Institutszentrum in Stuttgart nicht im Ernstfall beweisen, im Gegensatz zu anderen Standorten wie etwa der Bank von China, wo seit 1995 über 100 Blitze gefangen und sicher abgeleitet wurden.